Nicole Stein ist Tierärztin, Tiertrainerin und betreibt eine mobile Praxis für Verhaltensmedizin mit Sitz im rheinland-pfälzischen Mülheim-Kärlich. Als sie sich im Rahmen ihrer Trainerausbildung intensiver mit der Körpersprache von Tieren auseinandersetzte, begann sie, sich fürs Medical Training zu interessieren: "Bei den Behandlungen fiel mir seitdem immer mehr auf, dass die Tiere eigentlich alle sagten: Ich will das nicht!" Dass sie unglücklich dabei waren. Dass sie es nur so über sich ergehen ließen. Mit diesem Wissen fiel auch der Tierärztin ihre Arbeit immer schwerer.
Schließlich hörte Nicole Stein vom Medical Training bei Zootieren. Bei Löwen, Delfinen und Co. war es schon damals – vor allem aus Sicherheitsgründen – üblich, die Tiere so zu trainieren, dass sie bei Untersuchungen und Behandlungen kooperieren. Was für Zootiere funktioniert, sollte doch auch für Haustiere möglich sein, dachte Nicole Stein. Sie begann, sich verstärkt mit Medical Training zu beschäftigen. Damals hatte sie ihre eigene Praxis mir dem Schwerpunkt Verhaltenstherapie gegründet und sich bereits im Bereich Tiertraining fortgebildet.
Vor ihrer Elternzeit hatte sie sowohl in einer Kleintierpraxis als auch in einer Tierklinik gearbeitet. Dorthin wollte sie aber nicht mehr zurück, weil die Arbeit inklusive Notdiensten nur schwer mit dem Familienleben mit drei kleinen Kindern zu vereinbaren war. Auch gab es nur wenig Teilzeitstellen in den Kliniken. Über eine tierärztliche Fortbildung kam sie dann auf den Bereich Verhaltenstherapie und schließlich auf die Idee, selbst zu gründen. Seit 2011 hat sie eine eigene Praixs. Medical Training ist heute einer ihrer Schwerpunkte. Vor allem trainiert sie Hunde, aber seit einiger Zeit kommen auch mehr Katzen dazu.
Was ist Medical Training? – Ein Beispiel
Die Idee hinter dem Medical Training ist, dass man dem Tier frühzeitig beibringt, was in bestimmten Situationen passiert. So weiß das Tier, was auf es zukommt, aber auch, dass es dafür belohnt wird. Die Unsicherheit in Situationen, die erst einmal unangenehm sind, verschwindet.
Ein einfaches Beispiel ist das "Stillhalten in der Kinnlage", das bei vielen Behandlungen hilfreich ist. Im Medical Training wird die Kinnlage – wie viele andere Dinge – in kleinen Schritten geübt. Zunächst lockt die Trainerin den Hund mit Futter so, dass er seinen Unterkiefer auf ihre Hand legt. So lernt er, dass er eine Belohnung bekommt, wenn er das Kinn ablegt. Sobald er die Übung auf der Hand ohne Hilfe schafft und den Kopf von alleine auf dieUnterlage legt, wartet die Trainerin immer länger, bevor sie das Tier belohnt.
Nach und nach kommen Ablenkungsreize wie kleine Bewegungen hinzu, die mit der Zeit gesteigert werden können. Wenn der Hund trotz Ablenkungen liegen bleiben kann, kommt eine nächste Herausforderung hinzu: Die Trainerin berührt ihn mit der Hand, dann mit unterschiedlichen Gegenständen. Zunächst übt sie nur angenehme Reize, dann kommen einige unangenehme hinzu – etwa, vorsichtig an den Haaren zu ziehen oder das Tier kurz mit einem Zahnstocher zu pieksen, ohne es aber zu verletzten.
Diese unangenehmen Reize sind nötig, um das Tier zum Beispiel auf den Pieks bei einer Impfung oder andere Behandlungen vorzubereiten. Als Unterlage für das Kinn nutzt Nicole Stein einen Waschlappen, weil sie ihn überall hinlegen kann, wo der Hund seinen Kopf ablegen soll. Außerdem kann sie während der ersten Trainingsphase ihre Hand in den Waschlappen stecken und so spüren, ob das Tier sein Kinn auch wirklich ablegt.
"Wichtig ist, dass man die unangenehmen Reize erst übt, wenn der Rest klappt", sagt Nicole Stein. Viel Geduld brauche man beim Medical Training, denn es gebe immer wieder Rückschläge. Die besondere Herausforderung sei, dass man sehr nah am Tier arbeitet und teilweise die Individualdistanz überschreitet. "Hinzu kommt, dass das Tier etwas aushalten soll, das es sonst nicht aushalten würde."
So kann man sein Tier auf den Arztbesuch vorbereiten
Viele Menschen kommen mit ihren Tieren zu Nicole Stein, wenn sie ein konkretes Thema mit ihrem Tier haben, wenn es zum Beispiel immer wieder eine Augenentzündung hat oder das regelmäßige Krallenschneiden eine große Herausforderung ist. Manche hatten auch mit ihrem ersten Hund Schwierigkeiten und wollen, dass es beim nächsten Hund besser läuft. Tropfen verabreichen, Krallen schneiden, den Hund baden – Nicole Stein trainiert mit Mensch und Tier nicht nur für die großen Behandlungen beim Arzt, sondern auch für die alltägliche Pflege daheim.
Grundsätzlich empfiehlt sie, Tiere früh auf den Besuch beim Tierarzt vorzubereiten. Dazu könne man
- schon mit dem Welpen regelmäßig zum Tierarzt gehen, um ihm gute Erfahrungen zu ermöglichen.
- das Tier vorsichtig an unangenehme Reize gewöhnen: Wasser, Kälte, den Geruch nach Desinfektionsmitteln.
- das Tier immer mal wieder festhalten, um es auf eine eventuelle Fixierung beim Tierarzt vorzubereiten.
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Happy Visits bringen allen was
Mit den "Happy Visits" – vorbereitenden Tierarztbesuchen, bei denen nichts passiert – kann man seinem Tier die Angst nehmen. Man kann es durch die Praxisräume führen, nach verstecktem Futter schnüffeln lassen. So kann das Tier mit dem Arztbesuch positive Emotionen verknüpfen und die Gerüche und Geräusche der ungewohnten Umgebung kennenlernen. "Einen Happy Visit sollte man natürlich vorher mit dem Praxisteam absprechen", rät Nicole Stein. "Auch finde ich es fair, wenn man dafür den Preis einer Konsultation bezahlt."
Bei vielen Praxen renne man aber offene Türen ein, wenn man einen Kennenlern-Besuch plane. "Die haben ja auch was davon", sagt die Tierärztin. "Ihre Arbeit wird dann weniger stressig und weniger gefährlich." Auch wenn das Tier schon Tierarzterfahrung hat, aber ein Praxiswechsel ansteht, kann man es mit Happy Visits auf spätere Besuche vorbereiten. Ohne Vorbereitung ist das Risiko größer, dass der Arztbesuch zu einer traumatischen Erfahrung wird – weil es dem Tier ja sowieso schon nicht gut geht und es gar nicht weiß, was passiert.
Was aber können Hundebesitzer machen, wenn sie noch keine Gelegenheit für einen Happy Visit oder gar ein Medical Training hatten?
Manchmal kommt das Leben dazwischen, und die Tiere werden krank, bevor das Training erste Früchte trägt.
"Als Tierärztin mache ich dann ein Low-Stress-Handling", sagt Nicole Stein. "Ich passe die Abläufe in der Praxis, soweit es geht, dem Tier an. Ich vermeide stressige Situationen und Dinge."
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So wird ein Tierarztbesuch stressfreier
Aber auch als Hundebesitzer könne man entscheidend dazu beitragen, dass ein Arztbesuch trotz fehlender Erfahrung gut verlaufe. Man könne dafür sorgen
- dass man selbst entspannt sei, zum Beispiel durch Atemübungen.
- dass man sich eine Begleitperson mitnehme, die einen beruhigt.
- dass man mit dem Tier draußen wartet oder spazieren geht, wenn es Angst vorm Wartezimmer hat.
- dass man vorher genau überlege, wo das Tier den meisten Stress hat, aber auch wo es sich wohlfühlt, zum Beispiel auf dem Arm.
"Die meisten Menschen sind aufgeregt, wenn es um das eigene Tier geht", weiß Nicole Stein. "Aber es ist die halbe Miete, wenn die Menschen beim Tierarztbesuch entspannt sind." Weil sich die Stimmung des Besitzers auf das Tier übertrage. Aber auch die Körpersprache des Tierarztes spiele eine Rolle – und eben auch, wie aufmerksam er die Körpersprache des Tieres liest.
Medical Training und Arbeitssicherheit
Früher, als Nicole Stein ihr Medizinstudium absolvierte, war das Verhalten der Tiere kaum ein Thema. "Da ging es vor allem darum, wie ich das Tier fixieren kann, damit sich keiner verletzt und ich meine Arbeit möglichst schnell und stressfrei durchführen kann." Mittlerweile hat sich viel getan, sowohl bei Tierärzten als auch bei Trainern und Tierhaltern. Gab es noch vor 10 Jahren kaum Informationen zum Medical Training im Internet, bieten es nun immer mehr Hundeschulen an. "Auch hat sich das Bild vom Haustier verändert", sagt die Tierärztin. "Den Menschen ist viel wichtiger, dass es ihrem Hund oder ihrer Katze gutgeht." So bekommt auch Nicole Stein mehr Anfragen von Katzen- und Hundehaltern, die nach einem Medical Training fragen.
Trotz Medical Training ist Arbeitssicherheit immer ein Thema für Tierärzte. Ein Hund könne zwar seinen Kopf ablegen und so das Kooperationssignal geben, dass er für die Behandlung bereit ist. Auch könne er der Tierärztin durch das Anheben des Kopfes mitteilen, dass er eine Pause brauche. "Aber das ist für mich natürlich keine absolute Garantie, dass er nicht zubeißt", sagt Nicole Stein. Nicht immer sei eine Behandlung ohne Festhalten oder Fixierung umsetzbar. Darum sei es auch eine gute Übung, seinen Hund immer mal wieder kurz – und schrittweise länger – festzuhalten und dies mit Futter zu belohnen. "So lernt das Tier, dass das Fixieren nicht schlimm ist – im Gegenteil: sogar nett sein kann", sagt Nicole Stein. "Oft gibt es den Tieren in der Praxis auch Sicherheit, wenn der Besitzer sie festhält."
Weitere Vorteile von Medical Training
Nicole Stein freut sich vor allem, wenn durch das Medical Training Dinge funktionieren, die vorher unmöglich schienen. "Ich hatte mal einen Tierheimhund im Training, der sich überhaupt nicht untersuchen lassen wollte", sagt die Tierärztin. "Da ging nichts. Am liebsten wollte er die Ärztin beißen. Über das Medical Training und Kooperationssignale konnte man ihn schließlich ohne Probleme impfen." Aber auch jenseits der Arztbesuche sieht Nicole Stein einen großen Vorteil im Medical Training: Es verbessere die Beziehung zwischen Mensch und Tier. "Medical Training ist Bindungsarbeit pur", sagt sie. "Man lernt dabei eine Menge über Körpersprache und Kooperation. Es ist gelebter Tierschutz."
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